Die Digitalisierung der Justiz - Status-Quo und Diskurs. Ein Bericht von Angela Baral, Geschäftsführerin der MAV GmbH.
Die Digitalisierung der Justiz – Status-Quo und Diskurs
Ein Bericht von Angela Baral, Geschäftsführerin der MAV GmbH
Am 13. November 2023 hatte der Bayerische AnwaltVerband e.V. zur Präsenz-Tagung Anwalt2023 geladen. Im ConferenceCenter des Hauses der Bayerischen Wirtschaft wurde der aktuelle Stand der Digitalisierung der Justiz thematisiert und die zahlreichen interessierten Anwesenden aus Anwaltschaft und Justiz waren dazu eingeladen miteinander in den Diskurs zu treten.
Ministerialdirigent Heinz-Peter Mair, Leiter der Abteilung für Digitalisierung und Innovation des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz eröffnete die Tagung und bekräftigte, dass der enge Austausch zwischen Anwaltschaft und Justiz wichtige Grundlage dafür sei, dass man die digitalen Verfahren auch erfolgreich bearbeiten könne.
Er nutzte die Gelegenheit um den Teilnehmenden ein kurzes Update zum aktuellen Stand der Digitalisierung der Gerichte und Staatsanwaltschaften in Bayern zu geben und sprach dabei E-Akte, Videoverhandlungen und Legal-Tech an. Neben der Denkfabrik, die aus IT-Experten und Juristen besteht, die sich regelmäßig treffen und zu den Möglichkeiten und Grenzen von KI und Legal Tech austauschen, gehört zur neuen Digitalabteilung von Ministerialdirigent Heinz-Peter Mair eine Stabstelle Legal Tech, die die Digitalisierung des Rechtswesens beobachtet, neue Trends identifizieren und analysieren und für die Justiz nutzbar machen soll.
Was heißt hier Digitalisierung? Thesen zum aktuellen Einsatz von Technik in Kanzleien in Bayern
Im Anschluss an das Grußwort bedankte sich der Präsident des Bayerischen AnwaltVerbands, Rechtsanwalt Michael Dudek bei den Referentinnen und Referenten und den Sponsoren der Veranstaltung, juris, ACTAPORT und HDI, die jeweils auch persönlich vertreten waren.
In seinem Vortrag formulierte er 40 Thesen zur Digitalisierung der Justiz mit denen er zur Diskussion anregen will. Zunächst blickte er auf die Anwaltschaft: beA zwingt Kanzleien zur Vorhaltung und ständiger Erneuerung eines bestimmten technischen Standards – und stellt damit immer wieder Kosten- und Haftungsfragen. Was wäre passiert, hätte man die Benutzung von beA freigestellt? Wenn die Entwicklung tatsächlich disruptiv verläuft, hätte es eigentlich keinen Benutzungszwang gebraucht. Auf Seiten der Kundschaft konstatierte Dudek, dass Beratung immer individueller und interprofessioneller nachgefragt wird und sich vor allem in wirtschaftlichen Prozessen zeitlich immer weiter nach vorne verlagert. Eine Schwierigkeit bei Legal-Tech sei, dass regelbasierte Programme einen bereits subsumierten, d.h. in die rechtliche Terminologie übersetzten Sachverhalt erfordern, was häufig unterschätzt wird. Beim Gliederungspunkt Justiz und Digitalisierung stellte Dudek die These auf, dass KI zur Bewältigung von Massenverfahren zu Intransparenz in den Verfahren führt und zu Abhängigkeit von der technischen Anwendung. Viele Fachleute forderten eine kritische Bestandsaufnahme vor den nächsten Entwicklungsschritten zur Anwendung von KI. Die Situation hat eine hohe Eigendynamik, es gibt keine echten Testphasen. Aufgrund der hohen Investitionskosten und der Konkurrenz unter den Bundesländern gibt es kein Zurück oder zumindest ein Nachjustieren. Die Geschäftsstellen der Gerichte können die aktuelle Technik, so sie bereits vorhanden ist, nur mit überobligatorischem Einsatz bedienen. Es bedarf der kritischen Analyse, was Geschäftsstellen in Zukunft noch leisten sollen und können.
Bei der Betrachtung der Digitalwirtschaft merkte Dudek an, dass im Rechtsmarkt ein riesiges wirtschaftliches Potential liegt, weshalb auch große Unternehmen darin investieren. „Das Problem besteht bereits vor der Anwendung von KI und heißt Big Data.“ Die Digitalisierung der Justiz macht einen bislang sehr wichtigen, aber bislang noch nicht digitalisierten, gesellschaftlichen Bereich nutzbar. Verhalten wird erfasst, analysierbar und antizipierbar. Die Frage ist: „Was sind die Folgen der Anwendung bestimmter Techniken, was die der Kombination von Techniken, z.B. Big Data und Neurowissenschaften?“. Schließlich folgte Dudeks These von Technik als Droge: „wir fliehen in immer komplexere Lösungsansätze, statt uns um das Wesentliche zu kümmern.“ Letztlich erleichtere Digitalität Regierbarkeit und begünstige Totalitarismus.
Stand der Digitalisierung der Justiz – national: Auswirkungen auf die Anwaltschaft, Aktivitäten des DAV
Zum Ende seines Vortags forderte Dudek zum regen Austausch über seine Thesen auf und leitete dafür direkt zu RAinuNin Edith Kindermann über.
„Wir kriegen das gesamte Thema nur in den Griff, wenn wir es gemeinsam tun.“ so die Präsidentin des DAV. Die Justiz muss verstehen wie Anwaltschaft funktioniert und umkehrt. Außerdem müssen wir im Veränderungsprozess die Menschen mitnehmen. Der Zug lässt sich nicht bremsen. „Ich muss wissen, warum ich welchen Weg gehe und die Konsequenzen tragen.“ Aber: Wir geben die Art der Rechtsfindung vor, ordnen uns nicht der Technik unter. Kindermann wies auf das Grundlagenpapier der OLG-Präsidenten zum Einsatz von KI und algorithmischen Systemen in der Justiz hin: https://oberlandesgericht-celle.niedersachsen.de/startseite/aktuelles/grundlagenpapier_zum_einsatz_kunstlicher_intelligenz_in_der_justiz/grundlagenpapier-zum-einsatz-kunstlicher-intelligenz-in-der-justiz-215525.html
Einen großen Schritt weiter wird die Anwaltschaft ein aktuelles Gesetzesvorhaben des BMJ bringen: der „Referentenentwurf zur weiteren Digitalisierung der Justiz“ schafft an zumindest 3 Stellen Erleichterung: Abschaffung der Schriftformerfordernis bei §10 RVG, Einreichung von bspw. PKH-Erklärung in digitaler Form (§130a ZPO) und Formfiktion nach § 130e, für Willenserklärungen die mit Schriftsätzen elektronisch bei Gericht eingereicht werden.
Zur Frage welche Modelle es bei der Bearbeitung von Massenverfahren braucht, schilderte Kindermann zwei Projekte. Am OLG Stuttgart wird OLGA eingesetzt, ein Programm das Metadaten aus Schriftsätzen herausfiltert. Außerdem schlägt es z.B. einen Hinweisbeschluss vor, den der Richter anschließend überprüfen muss. In Niedersachsen läuft derzeit MAKI im Probebetrieb, eine Struktur die für alle Massenverfahren geeignet ist und vom jeweiligen Richter individuell auf seine Fälle angepasst wird. Die entscheidende Frage wird sein: traut sich der Anwender vom Vorschlag der Technik abzuweichen? Oder hat er dadurch Begründungsaufwand? Der menschliche Faktor ist empirisch nachgewiesen: er geht mit dem Vorschlag der Technik. Auch zu beachten ist, ob es noch genügend Zeit für individuelle Bearbeitung gibt. Steht der Richtervorbehalt eventuell nur noch auf dem Papier?
Massenverfahren waren der Trigger für den strukturierten Parteivortrag. Die Diskussion entspinnt sich seither um das Basisdokument: der Beklagtenvertreter lädt das Dokument des Klägers herunter und fügt seinen Vortrag ein, der Richter kann anschließend Hinweise geben. Kindermann lehnt dieses Vorgehen für die Anwaltschaft komplett ab. Die Erprobung an einfachen Fällen ist nicht aussagefähig. Man sollte besser darüber reden, ob man Verfahren strukturieren kann.
Bei Large Language Systemen treiben Bayern und NWR gemeinsam die Entwicklung voran. Die Frage ist: Wie werden diese trainiert? Wie wird anonymisiert und pseudonymisiert? Anliegen der Wirtschaft ist, alle Gerichtsentscheidungen kostenfrei zu digitalisieren, um KI-Modelle aufzusetzen, die das Ergebnis von gerichtlichen Verfahren besser vorhersagen können.
Im DAV arbeiten verschiedene Ausschüsse am Thema Digitalisierung und sind direkt ans Präsidium angebunden. Es finden Gespräche mit Bund und allen Ländern statt, mit Universitäten, mit der BRAK, mit Softwareherstellern und Wissensmanagementsystemen. „Wir bekommen das hin. Wenn wir es alle zusammen machen.“ beendete Kindermann Ihren Vortrag.
Beispiele zur Digitalisierung der Justiz – international: Erfahrungen bei der Suche nach guten Lösungen
Prof. Dr. Matthias Kilian, Direktor des Soldan Instituts und des Instituts für Anwaltsrecht, der Universität zu Köln sprach anschließend zu internationalen Erfahrungen bei der Suche nach guten Lösungen bei der Digitalisierung der Justiz.
Mit fünf Weisheiten führte Kilian in seinen Vortrag ein: Künstliche Intelligenz sei weder so geheimnisvoll, noch so fortgeschritten, wie häufig gedacht wird. Nicht überall wo KI /Legal Tech darauf steht, ist sie auch drin. KI bietet für Juristen vor allem Chancen, nicht Risiken. Und schließlich: Nicht alles wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Bei der Frage wo wir stehen, stellte Kilian fest, dass die deutsche Justiz beim Thema Digitalisierung einen Rückstand von etwa 10 Jahren auf die führenden Nationen hat. Die Gründe hierfür liegen in datenschutzrechtlichen Aspekten, an einer traditionell geprägten Verfahrensordnung und am föderalen System. Weltweit wird die Bedeutung der Digitalisierung der Justiz immer größer, so Kilian beim Blick auf Internationale Lösungen. Das führende Land ist Singapur (eFiling 1997, Video-Hearings 2002), in Europa führt Estland die Entwicklung an und Deutschland befindet sich im unteren Mittelfeld. Elektronischer Rechtsverkehr in Form von Kommunikation zwischen Gerichten, Behörden und Rechtsanwälten über digitale E-Justiz-Portale ist inzwischen Standard. Oftmals wird dadurch Kommunikation in Echtzeit, auch mit den am Verfahren beteiligten Parteien ermöglicht. Postalische Schriftsätze entfalten meist keine rechtliche Wirkung mehr.
Vollständig digitale Gerichte und Gerichtsverfahren gibt es zum Beispiel in China. In der Schweiz wird als Legal-Tech-Hilfestellungen für Rechtsanwälte und Richter ein „DeepJudge“ Algorithmus eingesetzt, der unter anderem Dokumente analysieren und sie mit bereits früher analysierten Gesetzestexten, Urteilen und Verträgen vergleichen kann. In Frankreich gibt es Programme zur Legal-Tech-Hilfestellung für Rechtsanwälte und Richter, die die Entscheidungsfindung erleichtern sollen.
Das estnische Staatswesen ist fast zu 100% digitalisiert, seit 2006 ist das gesamte Justizsystem praktisch digital. Begünstigt wurde die schnelle Digitalisierung durch die überschaubaren Dimensionen: Estland verfügt über vier Landgerichte, zwei Verwaltungsgerichte, zwei Bezirksgerichte als Rechtsmittelinstanzen und einen Staatsgerichtshof.
In seinem Ausblick stellte Kilian dar, dass durch die fehlende Digitalisierung der Justiz in Deutschland das Risiko eines fortgesetzten und ungebremsten Abwärtstrends der zivilgerichtlichen Eingangszahlen steigt. Immer mehr Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens lösen ihre Konflikte ohne Hilfe der Justiz. Alternative Streitlösungskonzepte werden immer beliebter. Auf dem Spiel steht letztlich die Rolle der unabhängigen Judikative in unserem demokratischen Rechtsstaat. Notwendig ist ein vertrauensstiftender Rechtsrahmen für alle Nutzerinnen und Nutzer, insbesondere für Verbraucherinnen und Verbraucher: die KI-Verordnung der Europäischen Kommission.
Brennpunkt: Stundensatzvereinbarungen 2023
Ein weiteres brisantes Thema nahm sich Sabine Jungbauer, Geprüfte Rechtsfachwirtin auf der Agenda vor: Stundensatzvereinbarungen 2023. Nach Darstellung der Probleme, die bei Stundensatzvereinbarungen auftreten können, erläuterte sie die entsprechende EuGH-Entscheidung. Demnach sind fehlende Informationen bzw. fehlende Transparenz zum richtigen Zeitpunkt problematisch. Unter Einbeziehung nationaler Entscheidungen und weiterer Quellen gab Jungbauer praktische Formulierungshilfen und stellte Vorteile und Gefahren der verschiedenen Vorgehensweisen vor. Schließlich verglich sie Mindestvergütungsklausel und Stundensatz und zeigte wie man Honorarverluste durch Abrechnung nach Zeitabschnitten vermeidet. Dabei betonte die Referentin mehrfach, dass man mit Aufklärung und Transparenz am besten zu einem für beide Seiten zufriedenstellenden Ziel kommt. Dudek bestätigte dies aus seiner mehr als 30-jährigen Berufserfahrung: einbestellen, zuhören, aufklären, von sich aus das Thema Kosten ansprechen, diese Abfolge war und ist für ihn der erfolgreiche Weg.
Mit diesen konkreten Hinweisen zur täglichen Arbeit in den Kanzleien, angereichert durch zahlreiche Beispiele aus dem echten Leben, fand die Tagung einen ausgezeichneten Abschluss.
Fazit des Präsidenten des Bayerischen Anwaltverbandes
Dudek zog als Fazit aus den Vorträgen: Denken Sie immer ans Geld, unterstützen Sie die starke Interessensvertretung durch den DAV, für den Edith Kindermann als hoch geschätzte Präsidentin unermüdlich und erfolgreich agiert, lassen Sie sich inspirieren durch die von Prof. Dr. Kilian dargestellten Impulse aus anderen Ländern.
Zuletzt bedankte sich BAV-Präsident Dudek bei den Teilnehmenden für ihr Interesse und ihre engagierten Diskussionsbeiträge und bei Frau Baral mit der MAV GmbH für die hervorragende Organisation der Tagung.